Aus Gräben ist ein Grab geworden


 
Ich glaube ich spreche für Ärztinnen und Ärzte, für Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger, für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten – für alle, die mit kranken Menschen zu tun haben. Grundsätzlich wollen wir niemandem schaden. First – no harm.
Wir machen unseren Beruf, weil wir für andere Menschen da sind und ein vielleicht auch nüchternes Interesse am menschlichen Körper und deren Funktionsweisen haben.
Frau Dr. Lisa-Maria Kellermayr hat als Ärztin für ihre Patientinnen und Patienten, getan, was sie konnte. Sie hat sich eingesetzt, und war eine der ersten, die mit der Wirksamkeit von Budesonid in der Frühphase von Covid an die Öffentlichkeit gegangen ist. Sie musste laut und stark sein, um – als Frau – nicht überhört zu werden.
Die Lorbeeren für diesen Therapieansatz, der Menschen vor einem Krankenhaus auch nur eventuell bewahrt hat, hat sie nicht bekommen.
In ständiger Rechtfertigung zu leben, weil man Menschen vor einer Krankheit bewahren möchte – und ihnen keinen Schaden zukommen lassen will, ist anstrengend.
In ständiger Bedrohung zu leben, weil man Menschen vor einer Krankheit bewahren möchte – und Ihnen keinen Schaden zukommen lassen will, ist zermürbend.
In ständiger Bedrohung und Rechtfertigung über die Bedrohung unter Existenzangst zu leben, kann kaputt machen.
 
Die Kultur, die Bedrohung zulässt – nicht nur zulässt – sondern als adäquaten Diskurs legitimiert – und Rechtfertigung für wissenschafltich belegtes Handeln verlangt, sowie Rechtfertigung für das Aufzeigen der Bedrohung, eine Kultur, die einen Schuldigen sucht, das Opfer zum Täter macht, steht hinter den Gräben in der Gesellschaft, die zum Grab für Lisa-Maria Kellermayr führten.
Psychisch auffällig. Hysterisch. Geltungsdrang. Medienpräsenz. Eigenes Fortkommen. Unsympathisch. All das, liest und hört man über sie. In den nächsten Tagen werden wir viel über sie zu lesen bekommen, wichtige Personen werden sich äußern und das Beileid bekunden, bevor das Schweigen und die Leere und das Vergessen eintritt. Wer will sich denn damit beschäftigen? Wir wollen eine nachhaltige Kulturänderung. Im medizinischen System- als auch in unserer Gesellschaft. Dafür muss man laut- stark eintreten.
Wir wissen nicht, wie Lisa-Maria Kellermayr war, wir kannten sie nicht. Ich habe sie persönlich kontaktiert, um ihr Hilfe über secondvictim.at anzubieten. Sie hat nicht mehr drauf reagiert.
Vielleicht war es zu spät. Ihre Ordination war bereits geschlossen, ihre Existenz bedroht.
Wir wissen, dass Medizinerinnen und Mediziner empirisch belegt eine höhere Suizidrate auf als die Allgemeinbevölkerung aufweisen. Die Selbsttötungsraten sind nach den Ergebnissen von 14 internationalen Studien 1,3-3,4-fach höher, die für Medizinerinnen sogar 2,5-5,7-fach höher als bei vergleichbaren Nichtmedizinerinnen. Die Geschlechterverteilung bei den Ärztinnen und Ärzten ist interessanterweise „ausgewogen“, während sich in der Allgemeinbevölkerung Männer 2,5 mal häufiger suizidieren als Frauen. Quelle: https://ajp.psychiatryonline.org/doi/full/10.1176/appi.ajp.161.12.2295
 
Hier besteht immenser Handlungsbedarf. Daher gibt es auch Second Victim – Mensch bleiben – kein Opfer werden.
Hinter dem Wort „Gesundheitspersonal“, stehen Menschen, keine Maschinen. Wir wollen auch keine Opfer der Gesellschaft sein, oder unseres eigenen Handelns. Wir sind Menschen.  
Menschen, die ihren Rucksack tragen.
Menschen, deren Rucksack vielleicht zu schwer wird.
Die ihn nicht abstellen können, wenn man in aller Öffentlichkeit als (selbst) schuldig hingestellt wird, – ruhig sein und schwach, das wäre das angemessene Verhalten — nicht, laut und stark. Ruhig und geduckt in der Öffentlichkeit – dann wäre der Frau vielleicht geholfen worden.
Wir wissen nicht, was in dem Rucksack war, der Lisa erdrückt hat.
Es ist auch völlig egal.
Wir – als Gesellschaft – in dieser Kultur des Fingerzeigens und der Gräben – haben ihr nicht geholfen, den Rucksack ein Stück weit zu tragen.

Für den Verein Eva Potura

Wenn Du – insbesondere als Mitarbeiter- Mitarbeiterin im Gesundheitssystem Hilfe brauchst, findest du hier auf dieser Seite Beratungs und Unterstützungsangebote kostenfrei, schnell und anonym.

5 Comments

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  • Danke für die Gedanken zum Leben und Tod der Ärztin Lisa-Maria Keller!
    Würden sich nur mehr Menschen Gedanken in dieser Richtung machen, wir hätten eine bessere Welt.

  • Es tut sehr weh, Ihre Worte zu lesen und zu wissen, dass die kommenden Wochen nicht leichter werden. Eine starke Frau ist von uns gegangen, eine kluge Ärztin, die sich so außerordentlich für andere eingesetzt hat.
    Ihr Tod soll Veränderung bringen, er darf nicht vergessen werden.

    Ich bedanke mich für Ihre Initiative secondvictim. Ich hoffe, sie erleichtert einige Rucksäcke.

  • Liebe Eva, heute bin ich dir/euch ganz besonders dankbar, dass ihr diese Plattform gegründet habt. Hier ist ein guter Platz für die richtigen Worte, die du so passend formuliert hast. Ich bin nämlich voller Gedanken und gleichzeitig völlig sprachlos. Danke für deine Stimme. Herzlichst, Elisabeth

  • Danke für Ihre passenden Worte, sehr geehrte Frau Dr. Potura. Habe Ihren Artikel im Standard gelesen – berührend. Möge Ihre Stimme für Menschlichkeit in der Gesellschaft die nötige Resonanz finden.

  • Danke Frau Dr. Potura,
    für ihre Artikel zum Tod von Lisa-Maria Kellermayr, den ich im standard gelesen habe. Der das Geschehene so klar und deutlich ausdrückt.Und so jetzt auf die Plattform gefunden habe. Danke für alle die secondvictim gegründet haben. Es braucht viele viele Stimmen um diesen Bedrohungen, die sich mehr und mehr zeigen- standzuhalten, etwas entgegenzusetzen. Und v.a. mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft um in Zukunft vermeiden zu können, das Menschen andere so bedrohen und in ausweglose Situationen bringen. Ja es macht mich auch sprachlos und fassungslos, je mehr von den Zusammenhängen ich erfasse und erfahre, aber das möchte ich nicht zulassen das mich Menschen die so menschenverachtend agieren sprachlos machen.

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